Wie auch in diesem Diskussionsforum bereits thematisiert wurde, gab die Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. 2004 in einer Bewerbung bei der UNESCO und seitdem in mehreren Print- und Internet-Veröffentlichungen an, die Kasseler Handexemplare der "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm und Jacob Grimms Handexemplar vom Band 1 der "Deutschen Grammatik" in der Erstausgabe von 1819 befänden sich seit (ca.) 1897 kontinuierlich im Eigentum der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. Der bei der UNESCO zum Zweck der Aufnahme von fünf Bänden der Märchen-Handexemplare in das "Weltdokumentenerbe" eingereichte Text kann auf den Internetseiten der UNESCO abgerufen werden: http://portal.unesco.org/ci/en/ev.php-U ... =-465.html
(Link aktualisiert am 14. 11. 2009, BF)
Die Angabe der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V., sie sei seit 1897 Eigentümerin der Märchen-Handexemplare, wurde während der letzten Monate allgemein bekannt. Für die Grimm-Forschung war diese Behauptung überraschend, da sie mit den bisher (etwa in Ludwig Deneckes Monographie "Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm", 1971) vorliegenden Informationen nicht übereinstimmte. Das war Grund genug, die Überlieferungsgeschichte dieser Bücher und die damit zusammenhängenden Eigentumsverhältnisse einmal gründlich zu recherchieren.
Die Recherchen, die ich gemeinsam mit Kollegen aus Kassel und Auckland (Neuseeland) und mit Unterstützung der Universitätsbibliothek Kassel unternommen habe, kommen zu folgendem Ergebnis:
Zwei Bände von Jacob Grimms Handexemplar der "Deutschen Grammatik" schenkte Herman Grimm der Landesbibliothek Kassel 1885, neun Bände Handexemplare der Grimmschen Märchen gelangten 1932 ebenfalls auf Verfügung Herman Grimms durch Johannes Bolte in die Bibliothek. In keinem der beiden Jahre bestand eine Grimm-Gesellschaft. Die alte Kasseler Grimm-Gesellschaft wurde 1897 gegründet und 1920 aufgelöst. Ihr gesamtes Eigentum ging satzungsgemäß an die Landesbibliothek. Die jetzige Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. wurde 1942 gegründet. Die Kasseler Handexemplare der Grammatik und der Märchen befanden sich niemals im Eigentum einer Grimm-Gesellschaft.
Vielmehr sind die Kasseler Grimm-Handexemplare der Märchen und der "Deutschen Grammatik" ein alter Bestand der Landesbibliothek Kassel und befinden sich (aufgrund des Vertrages zwischen dem Land Hessen und der Stadt Kassel vom 12. Dezember 1975 über die Übernahme der Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel und Landesbibliothek in das Bibliothekssystem der damaligen Gesamthochschule) heute im Eigentum der Universitätsbibliothek Kassel.
Die Nachforschungen zur Überlieferungs- und Eigentumsgeschichte ergaben also, daß die von der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. im Antrag mehrfach wiederholten Informationen zu den Überlieferungs- und Eigentumsverhältnissen an diesen Büchern völlig unrichtig sind. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es das Ziel dieser Verfälschungen gewesen sein könnte, die Handexemplare aus dem öffentlichen Eigentum zu entfremden und völlig in die Verfügungsgewalt der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. zu bringen. Der Fall geht über die elf Bände Handexemplare weit hinaus, weil diese Ansprüche der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V., wenn sie unwidersprochen blieben, wohl früher oder später auch für andere Grimm-Bestände aus der ehemaligen Landesbibliothek Kassel (und für Grimmiana aus städtischem Eigentum) erhoben würden. Die im Fall der Märchen-Handexemplare aufgedeckte Entfremdung öffentlichen Eigentums zugunsten einer privaten Körperschaft zeigt, daß sich das vom Brüder Grimm-Museum verwahrte öffentliche Eigentum in akuter Gefahr befindet.
Unsere Recherchen können jetzt im Detail auf folgender Internetseite nachverfolgt werden: http://www.grimmnetz.de/grimm-mow