von Holger Ehrhardt » Mittwoch, 15. Februar 2006, 12:02
Liebe Frau Vater,
zwar handelt es sich hier nicht um mein Spezialgebiet, aus der Kenntnis häuslicher Verhältnisse der Familie Grimm kann ich dennoch einige Hinweise zu deren Pflanzen geben. Sie verweisen auf das BGG 1 (1963), S. 251. Dort wird Herman Grimms Essay „Die Brüder Grimm und die Kinder- und Hausmärchen“ zitiert. Um den Lesern des Forums eine genauere Vorstellung zu vermitteln, zitiere ich diese Passage (nach Herman Grimm: Aufsätze zur Literatur. Hrsg. von Reinhold Steig. Gütersloh: Bertelsmann 1915, S. 164f.):
„An den Fenstern der Studierstuben meines Vaters und meines Onkels standen ihre Lieblingsblumen. Bei Jacob Goldlack und Heliotrop, bei Wilhelm, wie ich schon sagte, die Primel.* Auf einer ganz frühen Zeichnung, die ihn an seinem Schreibtische darstellt, steht ein solcher Blumentopf neben ihm. Sie hatten beide dasselbe kameradschaftliche Verhältnis zur Natur wie Goethe. Alles Blühende und Sprossende erfreute sie. […]
Das Gedicht Platens auf eine Geißblattblüte, welche der Dichter spät im Herbste noch auf einem Spaziergange fand, habe ich meinen Vater oft mit Bewegung vorlesen hören, und Goethes Veilchen, das Mozart so schön komponiert hat, war ihm besonders lieb. Beide Brüder hatten dieselbe Art, von ihren Spaziergängen einzelne Blüten und Blätter mitzubringen, die sie in die am meisten von ihnen gebrauchten Bücher legten. Oft ist auf den getrockneten Blättern das Datum und auch der Ort fein aufgeschrieben, von wo sie stammen. Ihr ganzes Leben begleiten diese Zeichen der Erinnerung. Zuweilen auch sind sie besonders in Papier geschlagen und nähere Umstände dazu bemerkt. So fand ich ein Kleeblatt vom Grabe der Mutter, das mein Vater an dem Tage mitnahm, als mein ältestes, frühgestorbenes Brüderchen, das nach Jacob Jacöbchen hieß, neben ihr begraben wurde.** Es liegen in Jacobs und Wilhelms Büchern viele Blätter und Blüten von diesem einzigen mütterlichen Grabe nur. Ich finde unter alten Schriften in Papier eingeschlagen eine vertrocknete Rosenknospe, und darauf steht: „Von der lieben Mutter ihrem Grab. Am 18. Juni um acht Uhr von mir abgebrochen für meinen lieben Bruder zum Andenken an mich.“ Das Jahr, und welcher Bruder gemeint sei, fehlt. Noch eine andere Lieblingsblume [S. 165] hatte mein Vater. In einem Briefe meiner Mutter, den sie nach seinem Tode schrieb, lese ich: „Diese Gänseblümchen sind vom lieben Wilhelm seinem Grabe. Es ist ganz besäet damit und hat sie doch niemand gesät, und im Herbst sollen Lilien darum gepflanzt werden, das waren seiner Mutter und der Lotte Lieblingsblumen.“***
* Vorher (S. 161) teilt Herman Grimm bereits mit: „Mein Vater erhielt am 24. Februar ebenso sicher einen Topf mit blühenden Primeln, seiner Lieblingsblume, mit der für mich der Begriff von Geburtstag verbunden ist.“
** Also noch ein weiteres, wenn auch nicht erhaltenes Grimm-Grab in Kassel. Vgl. "Grimm-Gräber in Kassel" hier im Forum.
*** Ein Ausschnitt dieses Briefs von Dorothea Grimms, vermutlich geschrieben am 22. Mai 1860, hat sich (mit dem Stempel „Grimm-Schrank“) im Staatsarchiv Marburg, 340 Grimm, Br 1673, erhalten. Der Inhalt weicht vom Mitgeteilten Herman Grimms ab. Da die unterdrückte Stelle sich auf Pflanzen bezieht, teile ich sie hier mit: „diese beiden Gänseblümechen sind vom lieben Wilhelm seinem Grab es ist ganz besät damit und hat sie doch niemand gesät, es sieht so unschuldig und rührend aus, ich habe viel Reseda jetzt darauf gesät und im Herbst sollen Lilien darum gepflanzt werden das waren seine, seiner Mutter und der Lotte lieblings Blumen.“
Aus Teilen des Familienbriefwechsels (Jacob, Wilhelm und Dorothea mit Herman Grimm, zit. n. Kasseler Ausgabe, Briefe, Band 1) trage ich folgende Stellen zusammen, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Die Kinder Wilhelms hatten von Kindheit an das gleiche „kameradschaftliche“ Verhältnis zu Pflanzen und Blumen wie Vater und Onkel, wie zwei Briefe aus den 1830er Jahren zeigen. Am 29. Juni 1836 schreibt Jacob an Herman nach Kassel: „Hier gibt es jetzt viele rosen, aber seit Gustelchen weg ist bringt mir niemand welche.“ (S. 36) Am 18. Mai 1838 schreibt Herman an Wilhelm: „Ich habe mir ein Herbarium angelegt, und zeichne mir jede Blume, in das Buch welches ich als ich zuletzt in Cassel war, vom Oncle Louis bekommen habe, ab. Ich freue mich auf der Mama ihren Geburtstag sehr und schenke ihr ein gemahltes stiefmütterchen.“ (S. 45)
Das Wiepersdorfer Tagebuch Herman Grimms von 1847 wird mit einem Gedicht an eine in das Buch eingelegte Nelke eröffnet. Hier finden sich mehrere getrocknete Blumen.
Anfang am 24 Juli 1847.
Du gern empfangne gern verschenkte Nelke
Gieb ew’ge Frische diesem jungen Buch
und sei getrost ob auch die deine welke
denn du erlebtest lieblichste genug.
Stolz sei die Sonne die dir Wärme schickte
Stolz sei der Stock der deine Knospe trug
da ihrer Augen Sonne auf dich blickte
Stolz sei der Regen der dich frisch benäßt’
du wurdest ja als ihre Hand dich pflückte
An ihre Lippen sanft gepreßt.
Auf dem Drachenfels bei Bonn sammelt Herman für Auguste während seines dortigen Aufenthalts im Jahre 1848 „eine art rothes moos […] die sehr leicht forttreibt, so eine saftige pflanze.“ (S. 114)
Im Familienbriefwechsel der 1850er Jahre finden sich die Pflanzen der Grimms in der Linkstraße 7 immer wieder erwähnt. Am 24. Oktober 1851 meldet Herman seiner verreisten Mutter auf die Friedrichshütte bei Bebra: „das lorbeerbäumchen hat die Ottilie zum gärtner getragen.“ (S. 218). Seinem Vater schreibt er am 16. August 1853 nach Rheinbreitbach: „dein cactus, den ich einmal verloren glaubte, weil ihm bei offengebliebenem fenster ein platzregen fast alle erde fortgeschwemmt hatte, wächst rasch weiter, die Asclepia am fenster im saal noch üppiger, der lorbeerbaum kümmert so hin, ich habe ihm der läuse wegen alle blätter abgeschnitten, nun scheint ihm neue lust zu kommen. (S. 241) Mit Asclepia müsste eine Art aus der Familie der Asclepiadaceen (Schwalbenwurzgewächse) gemeint sein, vermutlich Schwalbenwurzenzian (Gentiana asclepiadea), eine Staude mit überhängenden Stielen. Die Pflanze kann bis zu einem Meter hoch wachsen und sie treibt im Herbst violettblaue Blüten. In den folgenden Wochen protokolliert Herman das Wachstum dieser Pflanze, am 6. September 1853: „die asclepia rankt sich immer weiter an der wand, und ist schon oben über die mitte des fensters hinaus, ich will ein nägelchen einschlagen sonst hält sie sich nicht mehr in der höhe.“ (S. 245), am 14. September: „die asclepia hat sich schon über die hälfte des fensters gerankt, wenn ihr wiederkommt ist sie gewiss schon rechts angekommen. Im gleichen Brief erfährt man noch mehr über die Topfpflanzen der Grimms: „dem papa sein orangenbäumchen ist voller knospen. der lorbeer treibt schwach, der kamelienbaum hat knospen aber schon lange und ohne sich zu verändern.“ (Ebd.)
Drei Jahre später, am 8. Mai 1856, berichtet Dorothea ihrem Sohn Herman nach Italien: „ich gehe den Morgen gleich in deine Stube es ist so kalt darin. Die arme Kamelie friert auch, sie wird langsam roth.“ (S. 275); am 13. Mai: „wir denken immer an dich, das Grüne Reischen was in deiner Stube auf dem Tisch steht ist ganz grün und aufgegangen die Kamelie wird roth.“ (S. 281); am 20. Mai: „Dein Reischen auf dem Tisch ist noch immer grün und die Kamelie noch lange nicht auf, die wartet auf dich ich auch.“ (S. 288) Aus dem Harz bittet Dorothea am 28. August des gleichen Jahres Herman in Berlin: „gieße manchmal den alten Kaktus,“ über der Zeile ergänzt Wilhelm Grimm: „auch des Papa Blumen.“ (S. 313) Wie wichtig Wilhelm diese Angelegenheiten waren, zeigt auch Dorotheas Brief vom 12. September 1856 aus Ilsenburg: „der Papa meinte die große Fächerpflanze von Gerhards müßte wohl bald aus dem Garten rauf sonst verdürbe sie ich verstehe es nicht, wie wir weg gingen sollte die Ottilie unßre Kamelie zum Gärtner bringen um sie umzupflanzen ob sie es wohl gethan hat? wir haben noch einen großen Baum dort dann könnte sie sie beide abholen und bezahlen was es kostet vergiß es nicht.“ (S. 317)
Im Jahr 1857 reist Herman Grimm für mehrere Monate nach Italien. Über seine Pflanzen wird er regelmäßig informiert. Kurz nach seiner Abreise schon, am 29. April, meldet Dorothea: „ich ging immer wieder in deine Stube 2 Weiden blühen so schön“ (S. 320); am 20. Mai schreibt Auguste an Herman: „Dein Heliotrop blüht wundervoll morgen wird die Blüthe dem alten Becker zu seinen Geburtstag gebracht“ (S. 335); am 26. Mai schreibt Dorothea: „gestern blühte eine Wundervolle Weide ich wollte sie abbrechen und dir in den Brief legen da war sie auf einmal zu. Die Erbsen blühen noch nicht“ (S. 340); einen Monat später meldet sie: „Deine Weiden haben ausgeblüht Die Erbsen wachsen wie toll blühen aber nicht“ (S. 352); am 28. Juli: „Denk nur deine Weide blüht noch immer es ist mir so rührend, die Erbsen waren verdrocknet, ich habe drei Schoten geärndet“ (S. 369). Schließlich erfahren wir mit Herman am 10. September 1857 auch von den anderen Pflanzen: „Die Asklepia blüht das Granatbaumchen blüth und die Camelie hat dicke Knospen, der Gumi Baum ist auch gut im stand, deinen Heliotrop hat der apapa in feinem Fenster und pflegt es sehr.“ (S. 399)
Vielleicht finden Sie aber auch im Briefwechsel Jacobs mit Wilhelm einige Bemerkungen zu den Pflanzen.
Mit freundlichen Grüßen
Holger Ehrhardt